Jürgen Ploog


Enthüllungen über Harry Gelb
oder
Unser Mann in Istanbul

The untold Story


Wie ist das,
sich das gesammelte Werk eines Schriftstellers vorzunehmen, mit dem man persönlich bekannt war? Gespenstisch, denn was anderes wäre es, als seinem Geist zu begegnen?
Ich kannte Jörg Fauser in einer kritischen Phase seines Lebens. Kritisch für seinen weiteren Werdegang als Autor. Fauser war Schriftsteller, & damit ist bereits sehr viel gesagt. Nicht alle, die schreiben, verdienen diese Bezeichnung. Ein Schriftsteller ist ein Mann, der etwas zustande bringt, was über das Geschriebene hinausgeht, der es schafft, einer Epoche Gestalt zu geben, was sie dem Verblassen der Vergänglichkeit entreisst.
Beim Schreiben weiss er davon nichts, er hat ganz anderes im Sinn. Meistens etwas, worum sich die meisten zunächst nicht kümmern. Es bleibt ein Geheimnis, was ihn zum Nerv der Zeit hinzieht. Oft ist er manisch damit beschäftigt, mit etwas sprachlich fertig zu werden, das ihn an den Rand von Verstörung bringt.
Dass Fauser inzwischen über 60 Jahre alt wäre, ist eine bittere Vorstellung, der ich mich besser nicht hingebe. Biografische Verweise entwickeln meist ein Eigenleben, das irgendwann ins Legendäre führt, denn Schriftsteller sterben nicht, sie entschwinden in einen Bereich, über dem der Schatten ihres Werks liegt.
Im Schreiben leben, darin vollzieht sich, was schliesslich zum Wirken wird. Es ist eine Beschränkung, durch die der enge Rahmen des Zeitlichen durchbrochen wird. Der Schreiber wird zur Figur seines Lebenslaufs.

Bekanntlich war Harry Gelb Fausers Alter ego. Gelb hatte etwas von einer Schattengestalt, die durch Fausers frühe Texte geistert. Verständlich ausgedrückt war Gelb der Mann, der Fauser gern gewesen wäre. Harry Gelb lebte ein grenzenloses Leben, das Fauser, dem Autor, vor Augen schwebte, die Projektionsgestalt seiner Sehnsüchte. Beide waren sie Junkies, Fauser der physiologisch Abhängige, Gelb einer, der sich um Stoffwechselbedingungen nicht kümmerte & mit der Sucht spielerisch umging. Es war der Geist Gelbs, der den ersten Texten Fausers ihre Beweglichkeit gab, ihre rastlose Unbekümmertheit, ihre sprunghafte Vitalität.
Wer Fauser kannte, weiss, dass ihm eine gewisse Schwerfälligkeit zu eigen war. In praktischen Dingen war er auch unbeholfen, was ja keineswegs ein Nachteil sein muss, denn Unbeholfenheit zwingt zu überlegtem & bedachtem Vorgehen. Fauser dachte & Gelb tanzte. Gemeinsam waren sie ein unschlagbares Team, & deshalb war es mehr als Zufall (oder Einfall, wie es bei schöpferischen Vorgängen heisst), dass Fauser, der raus wollte aus der "Specköde", sich mit Harry Gelb zusammen tat.
Der Fauser jener Jahre hing an der Nadel & war voll damit beschäftigt, den Affen zu füttern. Die Zellen mit Stoff voll zu pumpen, verschaffte ihm erst mal Spielraum, um weiterzumachen. Dafür, dass Weitermachen keineswegs selbstverständlich war, gibt es viele Beispiele, siehe Konrad Bayer, siehe Paul Celan. Damit ist klar, dass die Schriftstellerei für Fauser zu einem Ausweg wurde, & er war schlau genug, es nicht auf eigene Faust zu versuchen. Dafür war seine Situation zu brisant. Existentiell hatte er den Nerv der Zeit gespürt, die verzweifelte Suche nach einer Orientierungsrichtung. "Sie nahmen unser Blut Tag für Tag in winzigen Schlucken und wir lernten die Leere zu lieben und nicht mehr zu warten", wie es in Tophane heisst. Tophane, das ist ein Ortsteil von Istanbul, & nicht nur dort hatte er einen Blick in die Abgründe einer verwirrenden Welt getan. Keineswegs nur in ihrer orientalischen Version, auch in ihrer westlichen war diese Welt zum einen verwirrend, aber auch hässlich, gefährlich, abstossend & gefährlich. Wie sich da ohne Verlogenheit & den Griff in die Kiste der ästhetischen Schönfärberei herausschreiben? Nahezu zwingend musste er auf William Burroughs kommen & durch ihn auf eine Schreibtechnik, die als Cut-up bekannt wurde.
Möglicherweise hatte das anfangs mit dem Irrtum zu tun, Cut-up sei der Schlüssel zu einer Art Fixersprache. Flapsig, rücksichtslos & von der tretmühlenartigen Wiederkehr von Verlangen & Befriedigung bestimmt. Das war ein Missverständnis, aber ein naheliegendes. Burroughs hatte besonders im Anhang zum Naked Lunch (Aussagen über eine Krankheit) die Sucht als ein fast alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens erfassendes Phänomen beschrieben & zugleich mit einigen verqueren Vorstellungen über Drogen aufgeräumt. Er sprach vom "Junk-Virus", das nach dem Prinzip des Monopols vorgeht. "Opium ist profan und quantitativ wie Geld... die perfekte Ware." Eine Metapher für die Warenwelt also, die sich von Kontinent zu Kontinent ausbreitet & den Menschen der Algebra des Verlangens unterwirft. Haben wollen, vereinnahmen, das ist die Junk-Botschaft, bis am Schluss nur ein grauer Bildschirm bleibt, der immer schwächer und leerer wird. Eine Einbahnstrasse...

Fausers frühe Texte lassen sich als Reflexionen über die vielschichtigen Zustände der Sucht lesen. Über die Abhängigkeit zu schreiben heisst, ihr Herr werden. Ein langwieriger Prozess, der nicht immer gelingt. Den Teufel an den Hörnern packen, statt mit ihm ins Bett zu gehen.
Auf der Junk-Strasse passieren die aberwitzigsten Sachen. Für Fauser lief diese Strasse kreuz & quer durch Tophane, & er hat es geschafft in einer sprachlichen Mischung aus Kerouac & Burroughs diesen Zustandsraum als Vorhof zur Hölle sichtbar zu machen. "Auf der Rolltreppe erbrach ich mich – kotzte einem Computergesicht den Gabardine voll und der wollte die Schmiere holen und wieder musste ich wetzen – machte immer mehr als ich vertrug – Mülltonnen voller Dolantin plus der geklauten Rezepte – ."
In manchen Passagen legt er ein gewaltiges Tempo hin, in anderen kommt die Wahrnehmung fast zum Stehen. Alles, was ihm das "Radar des Junkies" liefert, bis hin zum mechanischen Durchlauf von Wörtern & Satzfetzen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Schnitttechnik kein Selbstdienungsladen ist, wo alles geht. Aber auch solches Runterkurbeln gehört zu den ersten Gehversuchen eines Schriftstellers, der um die reinigende Wirkung der Leere weiss. "Wir holen den Weg nicht ein wir strengen uns an aber der Himmel bleibt weiter entfernt. Für immer diesseits gehen 'wir' jetzt nebeneinander."
Ziellos, um den Weg nicht aus den Augen zu verlieren, was ja denen passiert, die sich einbilden, auf etwas zuzusteuern. Nur so läuft Befreiung ab, ein Prozess der Häutungen, nicht wissend, dass das alles auf einen Schluss & Abschied hinausläuft, der im Entzug endet. Storys ergeben sich erst später, wenn der Betroffene sich erinnert & dem zum Publikum gewordenen Leser alles noch einmal auftischt. Das Publikum will verstehen, nachvollziehen, goutieren. Der Leser dagegen ist dem Schreiber viel näher, er schaut ihm über die Schulter, ohne Unterhaltung oder Distanz oder Überblick zu fordern, die ihm den Raum verschaffen, seine eigenen Vorstellungen unterzubringen, die sich dann in Lachern aus dem Publikum artikulieren.
Sicher wird der Fliessbandeffekt eines Textes irgendwann der Ökonomie des Schreibens zum Opfer fallen, die zur Überarbeitung drängt. Auch Sprache ist Junk oder Stoff & hat ihre eigene Algebra, die sich dem Schreiber nur erschliesst, wenn er mit ihr umgeht. Cut-up erleichterte Fauser den sprachlichen Einstieg in die Literatur, aber den Ausweg, den er durch sie suchte, wies ihm die Schnittmethode nicht. Deshalb blieb ihre Anwendung auf seine frühen Arbeiten beschränkt.

Der Geist & die Atmosphäre der 60er Jahre hat literarisch kaum Niederschlag gefunden. Zu den wenigen Ausnahmen zähle ich Burroughs' Atrophiertes Vorwort zu Naked Lunch, Brinkmanns Anhang zu ACID (Der Film in Worten) & Fausers Tophane. "Sagen wir es so: der Tee bitter geworden, Rauch in den Ritzen, gedunsen über letzten Fragmenten, dem Papagei aus Tusche, den zerkauten Streichhölzern, den Kippen – drei Uhr früh, die Platte läuft nicht mehr, Charlies Wimmern, das MODERN JAZZ QUARTET." Lässt sich Einsamkeit oder das Fazit eines aussichtslosen Tages, das Abseits & die Verlorenheit der Nacht besser sagen? Wörter, die wie Irrlichter durch die Dunkelheit geistern. Am Ende lauert der Entzug. "Nur eine Spritze, in den Arsch meinetwegen, nur daß ich nicht falle, nur daß ich scheissen kann, nur daß ich die Scheisse halten kann, daß ich mein faules Fleisch halten kann, daß ich nicht verrecke, Sultan, oh Sultan."
Damit war die Grundlage für die erste Phase seines langen Marsches in die Schriftstellerei gelegt, die er später überwunden & hinter sich gelassen, aber nie verleugnet hat. Was in
Tophane unmittelbares Erleben & Bericht darüber war, gerät in Aqualunge zum artistischen Programm. "Sein Stoffwechsel war reif für ein biologisches Schaltjahr." Das Schreiben verdrängte die Sucht. Wörter wie "Koordinaten" oder "übergeschnappt" tauchen auf, die mich noch heute an gemeinsame Experimente erinnern, & unser Mann in Istanbul nimmt deutliche Formen an: Harry Gelb, "als Agent der Cut-Methode in fresh southerly winds" unterwegs. "Fresh southerly winds" war O-Ton Burroughs, mind you. Auch ein Zitat von mir findet sich: "Random-walks durch Missverständnisse". Zwischen Carl Weissner, Fauser & mir wurden die Texte herumgereicht & ausgetauscht. Es kam zu Schreibkollaborationen, & manches davon tauchte in unserer gemeinsamen Zeitschrift GASOLIN 23 auf. Jeder auf seine Weise & mit eigenem Gepäck waren wir unterwegs, On the Road, & Harry Gelb war stets mit von der Partie. Das wurde überdeutlich in Junk City I, wo ähnlich wie in Junkie von Burroughs die Distanz zur Sucht unübersehbar ist. "Sucht ist wahrscheinlich der konsequenteste Ausdruck von Amoral und Zynismus einer Zivilisation." Das war waschechter "Harry Gelb – aber ein Gelb, wie er sein könnte, nicht wie er ist". Ein Typ, zu dem ich sofort einen Draht fand, ein Komplize, vielleicht sogar ein Kumpel, wäre ich ihm in Fleisch & Blut begegnet. "Harry mit seinem Strohhut", kein venenzerfressener Junkie, sondern einer, der seine Sucht im Griff hatte & dabei war, über sie hinauszuwachsen.

Was war passiert? Das Zauberwort hiess Apomorphin. Fauser hatte einen Arzt gefunden, der wie der berühmte Dr. Dent bei Burroughs mit Hilfe dieser "Antidroge" Süchtige kurierte. Das war passiert. "Sehen Sie, Apomorphin ist für die Medizin, was Cut-up für die Literatur ist: Schnelle und gründliche Ausschaltung negativer Viren." Damit war die Katze aus dem Sack: Heilung, sprich Befreiung war möglich, es kam nur darauf an, die richtige Methode zu finden. Obwohl kaum Zweifel über den Zustand des Junkies bestand, war dem Schriftsteller der Hinterhalt, der durch Sprache droht, nicht ohne weiteres klar. Für eine kosmische Millisekunde passte beides für Fauser zusammen, & die Narbe, mit der er sich bis dahin herumgeschlagen hatte, verheilte. Geradezu apodiktisch erklärte er:
"Und auch das ist Cut-up: Aus der kaputten Landschaft einer Literatur, die nichts anderes mehr kann, als an sich selbst zu ersticken, schneidet sein Agent die präzisen Instruktionen Hassan-i-Sabbahs zur Technik des Widerstands – 'Nichts ist wahr. Alles erlaubt.'
Sehen Sie, Cut-up ist Apomorphin."
(Dr. Morgan lächelt.)
Damit nahm die wahre Harry Gelb-Story ihren Lauf, in der Harry nicht als Kunstfigur agierte, sondern als eine mit allen Wassern gewaschene Gestalt, bei der alle Fäden zusammenliefen in der "ursprünglichen Sprache der Zellen. Seinen Körper kennen wie der Pilot seine Maschine. Mit der Sprache dieser Zonen umgehen heisst schweigen können. Die ersten Tage der Raumfahrt..."

Alle Zeichen wiesen auf GO, fast so, als sei Odysseus ins Wasteland der nachsechziger Jahre zurückgekehrt. In fast allen Geschichten Fausers jener Zeit, ob in Der innere Kontinent, Wer erschoss Graham Greene?, Szene 23 & dem grandiosen Nirwana im Norden taucht Gelb auf, "...eine ganz verzweifelte Type. Man findet sie überall zwischen Kalkutta und Saigon, Schriftsteller, die nie eine Zeile geschrieben haben, Schmuggler, die nie etwas zu schmuggeln hatten, Agenten ohne Spesenkonto und ohne Zukunft..." Diesen Harry Gelb würde ich auf Anhieb erkennen, falls ich ihm einmal begegnen sollte, obwohl ich keine Ahnung habe wie er aussieht. Er ist eine dieser Gestalten, die auftauchen, um zu verschwinden. Sie hängen in Hotellobbys herum, fädeln Deals ein, sitzen "zufällig" neben einem in einer Bar & lassen beiläufig ein paar Bemerkungen fallen, die mehr Hinweise enthalten als die Archive von Geheimdiensten. Sie gehören zum beweglichen Inventar des Unterwegs, wo nichts wahr & alles möglich ist. Sie bevölkern ein Land der Erinnerung, in dem einmal ganze Generationen auf Achse waren auf der Suche nach dem Nirwana oder dem, was jeder auf seine Art dafür hielt.



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Jörg Fauser: Alles wird gut.
Gesammelte Erzählungen Bd. 1.
Jörg-Fauser-Edition Bd. V
Mit einem Vorwort von Helmut Krausser
und einem
Nachwort von Jürgen Ploog